Historische Entwicklung

Das Fach Werte und Normen, wie es heute existiert, ist das Ergebnis eines fortwährenden Aushandlungsprozesses zwischen verschiedenen politischen, weltanschaulichen und wissenschaftlichen Akteur:innen um das Verhältnis von Religion und Schule sowie die Frage, mit welcher Perspektive und Absicht der Gegenstand Religion im schulischen Unterricht behandelt werden soll.

Weil Werte und Normen ein Fach ist, das sich aus mehreren Bezugsdisziplinen speist und es keine eigene Fachdidaktik für Werte und Normen gibt, ist die Anzahl und Vielfalt der involvierten Akteur:innen vergleichsweise hoch.

 

Die hier vorgetragene historische Entwicklung stellt einen Auszug aus Wöstemeyer (2023) – siehe Literaturliste – und damit eine religionswissenschaftliche Perspektive auf die Genese des Faches Werte und Normen dar.

Chronik einer Fach-Genese

  • 1950er und 1960er Jahre

    1954 erreichten die SPD und die Freireligiöse Landesgemeinschaft Niedersachsen (heute: Humanistischer Verband Niedersachsen) die Verankerung eines eigenen Fachs namens religionskundlicher Unterricht im Niedersächsischen Schulgesetz, das ab der fünften Klasse aufwärts durch geeignete Lehrkräfte angeboten werden sollte. Die Gruppengröße von mindestens 12 Schüler:innen wurde jedoch selten erreicht, weil die Alternative in einer Freistunde bestand und kaum Lehrkräfte für das Fach zur Verfügung standen.

    Damit den Schulen keine Betreuungsprobleme entstanden, wurde der Religionsunterricht (und damit auch der alternative religionskundliche Unterricht) in den Randstundenbereich gelegt. Dadurch wurde das Abwahlverhalten der Schüler:innen noch verstärkt, was die Kirchen dazu bewog, sich für ein verpflichtendes Alternativfachangebot einzusetzen, das nicht bekenntnisgebunden sein sollte.

     

  • 1970er Jahre

    Als ein solches Alternativfach hätte sich der bereits bestehende religionskundliche Unterricht angeboten, dessen Erhalt 1970 im Rahmen eines Staatsvertrags zwischen dem Land Niedersachsen und der Freireligiösen Landesgemeinschaft Niedersachsen zugesichert wurde und für den 1973 in Hannover ein eigener Lehrstuhl für Religionswissenschaft und Didaktik des religionskundlichen Unterrichts mit der Professur von Peter Antes eingerichtet wurde, sodass die Lehramtsausbildung, die durch die Bezugsdisziplin Religionswissenschaft angeboten wurde, sichergestellt war.

    Auch von politischer Seite wurde in einem Regierungsentwurf für ein geändertes niedersächsisches Schulgesetz diese Variante in Form eines verpflichtenden Religionskundeunterrichts zunächst favorisiert und seitens des Kultusministers damit begründet, dass es nicht zu verantworten sei, „dass Schüler die Schule verlassen, ohne sich mit den für unsere Kultur grundlegenden religiösen und weltanschaulichen Werten, Ideen und Institutionen auseinandergesetzt zu haben. Wenn sie die konfessionell gebundene Unterrichtung aus Gewissensgründen ablehnen, dann müssen ihnen andere, äquivalente Möglichkeiten eröffnet werden“ (Stäblein, 1997, 293).

    Die Kirchen befanden den inhaltlichen Mitgestaltungswillen der Freireligiösen Landesgemeinschaft allerdings als sehr ausgeprägt und sahen dadurch die Neutralität des Faches gefährdet. In den Augen der Kirche handelte es sich beim religionskundlichen Unterricht also um einen humanistischen Bekenntnisunterricht, der als (staatlich geförderte) Konkurrenz zum eigenen konfessionellen Unterricht gesehen wurde.

    So wurde letztlich auf Bestreben der Kirchen zusätzlich zum konfessionellen und zum religionskundlichen Unterricht, die beide als ordentliche Schulfächer eingestuft waren, eine dritte Option, nämlich philosophischer Unterricht (oft bereits als Werte und Normen-Unterricht bezeichnet), als bekenntnisneutrale verpflichtende Alternative eingeführt, die 1974 unter SPD-Regierung Eingang ins Niedersächsische Schulgesetz (NSchG) fand.

    Die dort festgelegte Drei-Fächer-Regelung bestand knapp 20 Jahre lang, obwohl in der Schulpraxis nur wenige Schüler:innen den religionskundlichen Unterricht wählten und deshalb immer wieder die Idee im Raum stand, den religionskundlichen und den philosophischen Werte und Normen-Unterricht zu einem ordentlichen Lehrfach zusammenzulegen (vgl. Freireligiöse Landesgemeinschaft Niedersachsen und Gesellschaft zur Förderung religionskundlichen Unterrichts e.V. 1983, 12).

  • 1980er Jahre

    Die Kirchen, hier vor allem die römisch-katholische Kirche, sprachen sich dagegen aus (vgl. Katholisches Büro Niedersachsen 1983).

    Trotzdem wurden 1980 unter Mitarbeit von Peter Antes die anschließend noch über 20 Jahre gültigen Rahmenrichtlinien für ein solches Fach Werte und Normen verfasst, in denen neben der Praktischen Philosophie und geeigneten Gesellschaftswissenschaften die Religionswissenschaft als dezidierte gleichberechtigte Bezugsdisziplin festgelegt wurde, sodass es bundesweit eines der wenigen Schulfächer war und ist, an deren Konzeption die Religionswissenschaft offiziell mitbeteiligt ist.

     

  • 1990er Jahre bis heute

    Im Jahr 1993 kam es schließlich doch zur Zusammenlegung des religionskundlichen und des philosophischen Werte und Normen-Unterrichts zum Ersatzfach „Werte und Normen“, das im damaligen §128 NSchG geregelt wurde.

    Als Ersatzfach richtete sich Werte und Normen zum einen an vom konfessionellen Religionsunterricht abgemeldete Schüler:innen, die überwiegend christlich sozialisiert waren und zum anderen an konfessionslose und/oder humanistische Schüler:innen, die zuvor an der Teilnahme am Religionsunterricht verpflichtet gewesen waren. 

    Schüler:innen, die vorher keinen Religionsunterricht besucht hatten und keiner Religion angehörten oder deren Religionsgemeinschaft keinen Unterricht anbot, mussten auch den Werte und Normen-Unterricht nicht besuchen. 2002 wurde Werte und Normen zum obligatorischen Ersatzpflichtfach für alle Schüler:innen, die nicht am Religionsunterricht teilnehmen.

  • Copyright-Hinweis

    Dieser Text, der eine religionswissenschaftliche Perspektive auf das Fach 'Werte und Normen' darstellt, findet sich in ähnlichem Wortlaut in Wöstemeyer (2023), siehe Literaturliste.

  • Literatur zur Geschichte des Faches "Werte und Normen"
    • Antes, Peter. "Das Schulfach "Werte und Normen" in Niedersachsen: Ein Beispiel für gesellschaftliche Veränderungen." Postsäkular? Religion im Zusammenhang gesellschaftlicher Transformationsprozesse, edited by Friedrich Johannsen, Kohlhammer, 2010, pp. 127–36
    • Czelinski-Uesbeck, Michael (2011): "Das Fach 'Werte und Normen' in Niedersachsen." In: Marie-Louise Raters (Hg.): Werte in Religion und Ethik. Modelle des interdisziplinären Werteunterrichts in Deutschland, Österreich und der Schweiz. Dresden: Thelem, S. 35–45.
    • Schröder, Stefan. "Umstrittene Säkularität: Säkularer Religionsunterricht an Öffentlichen Schulen." Zeitschrift für Religionswissenschaft, vol. 28, no. 2, 2020, pp. 314–35.
    • Stäblein, Friedrich. "Die Entwicklung Des Faches Werte Und Normen in Niedersachsen." Schulverwaltungsblatt, no. 11, 1997, pp. 291–96.
    •  Wöstemeyer, Christina (2023): "Niedersachsen". In: Wanda Alberts, Horst Junginger et al. (Hg.): Handbuch Religionskunde in Deutschland. Berlin: de Gruyter, S. 297–327.